Wissenschaft und Öffentlichkeit: Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

Das akademische Fach Geschichte hat oftmals Schwierigkeiten, seinen Platz in der digitalen Gesellschaft zu finden. Das hat auch mit einer universitären Introvertiertheit zu tun, die den nächsten fördermittelfinanzierten Sammelband höher schätzt als die fundierte Beteiligung an den Diskursen der Öffentlichkeit, mit den medialen Mitteln dieser Öffentlichkeit. Dass es auch anders geht, zeigt das Projekt Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus – “Volksgemeinschaft” in der Gauhauptstadt, das die Digitalen Lernwelten zusammen mit den Arbeitsbereichen Zeitgeschichte sowie Geschichtsdidaktik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz realisiert haben.

Es bündelt mehrere geschichtswissenschaftliche und -didaktische Arbeitsfelder (von der Archivarbeit bis zur Erstellung historischer Narrationen), führt unterschiedliche Akteure zusammen (von SchülerInnen bis zu ProfessorInnen) und differenziert schließlich wissenschaftliche Arbeitsergebnisse in nutzergruppenspezifischen digitalen Publikationen.
Das Projekt umfasst eine gewaltige Informationsmenge: Im Ausstellungsbereich werden die Inhalte von fünf Räumen aufgegriffen.  Das ebenfalls zum Projekt gehörende Schulbuch umfasst  fünf Themenbereiche mit insgesamt 14 Inhaltskapiteln und einem Methodenteil, der Informationen zur Arbeit mit Fotografien und Zeitungen sowie Hinweise zur Erkundung von Orten enthält, denn: “Im Raum lesen wir die Zeit.” (Karl Schlögel). 

Das Lexikon wiederum umfasst nicht weniger als 164 Einträge, die von 41 AutorInnen verfasst wurden. Und im Zeitzeugenbereich finden sich Interviews mit 13 Personen, deren Aussagen in 80 jeweils einzeln aufrufbaren Audio- und Videosequenzen thematisch differenziert wurden. 

Schauen wir genauer auf einzelne Projektteile: Das Geschichtsbuch für den Unterricht nutzt die Möglichkeit, vertiefende und erweiternde Angebote zu machen, die eine fundierte Auseinandersetzung mit den Themen etwa in Projektarbeitsphasen oder während Exkursionen ermöglichen. Das wird auch anhand der Fülle unterschiedlichster Quellen und multimedialer Darstellungen deutlich, die mit einem großen Angebot an Fragen und Aufgabenstellungen bearbeitbar werden.

Das Rückgrat der Ausstellung besteht aus Themenpostern von Studierenden, deren Gestaltungskonzepte mit Unterstützung von zwei Grafikerinnen – einerseits der Universität und andererseits der Digitalen Lernwelten – kollaborativ entwickelt wurde. Sie sind als Dateien in das mPublish-System eingebunden und downloadbar. 

Hinzu kommen Kurzführungen per Video und Arbeitsmaterialien für “Mitmachstationen”, die den Fokus der AusstellungsbesucherInnen auf bestimmte thematische Aspekte legen. Umfangreiche Bemühungen haben die AusstellungsgestalterInnen auch darauf gelegt, die inhaltliche Vermittlung mit medialen Mitteln der Gegenwart zu verbinden. Das ist mitunter experimentell aber immer anregend. So findet man u.a. einen “Gleichschaltungs-Rap”, theatrale Inszenierungen von Zeitungsmeldungen aus der Nazi-Zeit oder filmische Dokumentationen der Erinnerungslandschaft mit Hinweisen auf Denkmäler, Straßennamen usw. Diese Elemente sind Belege für einen Doing-History-Ansatz, der gerade die an diesem Projekt beteiligten Studierenden sehr geprägt hat.

Schon das Geschichtsbuch an sich, erst recht der Zusammenhang aller Projektteile offenbart auf der narrativen wie auch auch auf der technischen Ebene  ein sehr detailreiches und dicht vernetztes Informations- und Arbeitsangebot, das auf der umfangreichen Recherche überwiegend neuen Quellenmaterials, auf medialer Vielfält und nicht zuletzt auch inszenatorischen Elementen beruht. Es ermöglicht einen sehr genauen Blick auf Akteure, Geschehnisse und Medien der Nazi-Zeit.

Technische Realisation

Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus ist ein Multi-Site-Projekt, das aus einem Ausstellungsbegleiter, einem umfangreichen Lehr- und Lernmaterial, einem Fachlexikon sowie einem multimedialen Zeitzeugenarchiv besteht. Diese Projektteile können in unterschiedlichen Nutzungskontexten differenziert genutzt werden.

Das mPublish-System ermöglicht die Nutzung aller gängigen Mediengenres (von Texten und Bildern bis zum Filmen) und enthält zudem interaktive Darstellungen. Diese werden u.a. durch H5P-Elemente realisiert, die hinsichtlich der Funktionen und des Layouts an die Bedürfnisse des jeweiligen Nutzungszusammenhangs sowie das Gesamtlayouts angepasst wurden. 

Eine besonderes Kennzeichen des Projekts ist ganz sicher die Vernetzung der Elemente. Die Zeitzeugeninterviews wurden beispielsweise intensiv verschlagwortet und damit entsteht ein digitales Sachregister, über das Inhalte erschlossen und direkt angewählt werden können.

Das Lexikon ist ähnlich vernetzt: Es lässt sich nach Themen oder Autoren erschließen und enthält Übersichten, aus denen etwa die Anzahl der von einer AutorIn verfassten Einträge hervorgeht. Inhaltsstichworte in den Lexikoneinträgen vernetzen die einzelnen Beiträge untereinander.

Hinzu kommt eine kontextsensible Suchfunktion, die die Inhalte aller Projektteile erfassbar macht und die Suchergebnisse wiederum nach diesen Projektbereichen ordnet. Ein Menü erlaubt die Einschränkung und Ausweitung des Suchbereichs.

Bisherige Erfahrungen

Das Projekt Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus ist ein Modellprojekt im besten Sinne des Wortes – kein Versuchsballon, sondern eine ernsthafte Publikation mit praktisch nutzbaren Angeboten für Ausstellung, Wissenschaft und Schule. Es wird inzwischen von Bildungseinrichtungen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen genutzt, ist Teil von Fortbildungsveranstaltungen und regt nicht zuletzt die lokale und regionale Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus an. 

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