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Schulbücher für die multikulturelle Gesellschaft

Ein Bericht von der Tagung ‚Diversity und Migration in Lernmitteln’ in Düsseldorf

Die Fehlstelle Diversität wirft ein Schlaglicht auf die Mängel schulischen (Geschichts-)unterrichts

Die gerade veröffentlichte Schulbuchstudie Migration und Integration des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung hat Verlagen, Schulautoren, Lehrern und Lehrerbildnern einiges ins Stammbuch geschrieben: Eine didaktisch anregende und moralisch hinnehmbare Darstellung des Themas Migration – immerhin eines der grundlegenden Themen menschlicher Gesellschaften, ihrer ständigen Veränderung und Entwicklung – gelingt fachübergreifend nicht.

Fächert man das Spektrum der Ursachen dieses Versagens für das Fach Geschichte auf, so kommt man sehr schnell auf mehrere, für alle Beteiligten nicht gerade schmeichelhafte Problemzusammenhängen:

  • Wir haben keine Sprache, um die Phänomene der Migration angemessen zu erfassen und zu beschreiben und in historische Narrationen sinnvoll zu integrieren.

Vorherrschend ist hingegen

  • die Festlegung der „Ausländer“, „Armutsflüchtlinge“ oder „Gastarbeiter“ auf Rollenklischees;
  • ein defizitfixiertes Herangehen, das Migration aus Sicht einer scheinbaren Mehrheitsgesellschaft beschreibt und eine konfliktbeladene Dichotomie von ‚wir’ und ‚die’ erzeugt;
  • eine unkritische Übernahme politischer Korrektheiten, die nicht zum Denken anregt;
  • ein tiefer Spalt zwischen Lehrmaterial und Unterrichtsdidaktik;
  • eine fachliche Fixierung auf die Traditionen der deutschen Geschichtsschreibung und ‑forschung, die verhindert, dass benachbarte Bezugswissenschaften berücksichtigt werden;
  • eine unreflektierte Fortsetzung altbekannter Schulbuchtraditionen, die das Schulbuch nach wie vor als Verlautbarung des staatlich approbierten, ‚richtigen’ Wissens versteht, statt als Plattform, die fachliche Kommunikation anregt, Orientierungsanlässe schafft und eigenständige Urteilsbildung herausfordert;
  • der Unwillen oder die Unfähigkeit, Diversität als ein anthropologisch begründbares Grundverhältnis des Lebens aufzugreifen und in allen zurückliegenden Epochen aufzuzeigen;
  • ein bislang weitgehend fehlendes Durchdenken, Akzeptieren und Gestalten der Kompetenzorientierung als paradigmatischer Wandel, der eben nicht nur sektorale Auswirkungen hat, sondern nicht zuletzt auf die Art und Weise der Schulbuchgestaltung wirken muss.

Die Liste ließe sich lange fortführen. Sie markiert all die Unterlassungssünden, Denkfaulheiten und bürokratischen Verriegelungen, unter denen Geschichtsunterricht als Teil des öffentlichen Umgangs mit Geschichte leidet. Und sie verdeutlicht, warum die schulische Befassung mit Geschichte nicht den Platz im Konzert geschichtskultureller Akteure einnehmen kann, der ihr – gemessen an Ressourceneinsatz und gesellschaftlicher Bedeutungszuschreibung – zustehen würde.

Paradoxien des Geschichtsunterrichts

Einerseits beschwören alle Beteiligten, dass sie Schüler zu selbstdenkenden Menschen formen wollen, andererseits erwartet man, dass Lehrpläne, Schulbücher und Lehrer die Verkündungsorgane der einen, ‚richtigen’ und damit statischen ‚Erkenntnis’ sind. (Eltern sind dabei nicht selten an vorderster Front zu finden, denn sie verlangen gerade im Fach Geschichte, das ja doch wohl ein ‚Lernfach’ sei, keine Erkenntnisse, sondern Erkenntnisendgültigkeit.)

Einerseits wollen alle weltoffen und tolerant sein, andererseits sind die Akteure des Bildungswesens oft genug nicht in der Lage, den nationalstaatlichen Erzählrahmen als Konstruktion transparent zu machen und sich, wo es sinnvoll und nötig erscheint, von ihm zu lösen.

Einerseits ist Deutschland de facto ein Einwanderungsland, andererseits tun wir so, als habe eine scheinbar homogene Mehrheitsgesellschaft den Auftrag, sich mit paternalistischer Haltung bedauernd und therapierend an die „entwurzelten“, „heimatlosen“ und von „Problemen erdrückten“ „Fremden“ zu wenden, um von ihnen Anpassungsleistungen an ein Deutschsein zu verlangen, das jedoch in der deutschen Alltagsrealität der Gegenwart allenfalls eine bildungshuberisch-romantische Fiktion ist.

Einerseits soll die Schule lebensnah sein, um die Befassung mit den Themen des Lehrplans und der Schulbücher nicht zu reiner Trockenschwimmerei verkommen zu lassen, andererseits haben wir oft Angst vor den dann nötigen, offenen Debatten im Unterricht, die sich mit den politischen, moralischen und ökonomischen Herausforderungen und Problemen der Gegenwart befassen.

Einerseits sollten wir, wie die Diversity-Education prägnant hervorhebt, die Individualität menschlicher Entwicklungen und Prägungen ernst nehmen, andererseits weigern wir uns, historische Narrationen transparent zu machen und jene Schüler, die sich mit ihnen auseinandersetzen sollen, in Schulbüchern direkt anzusprechen.

Einerseits haben wir angeblich verstanden, dass Menschen konstruierend die Welt gestalten und sie deutend narrativieren, andererseits tun wir so, als hätten z.B. bestimmte Formen kultureller Bedeutungskonstrukte objektive Qualität mit Ewigkeitscharakter und müssten daher nicht nach Funktionen, Kontexten und Reichweiten befragt werden. Solche Kulturkonstrukte haben – auf welchem Wege auch immer – offenbar die sakrosankte Position einer „Leitkultur“ (Th. Sommer) erlangt, nach der sich Menschen zu richten haben.

Notwendigkeiten

Diversität darf nicht als Sonderphänomen aufgefasst werden, das sich additiv und fakultativ ansprechen lässt, nachdem die angeblichen ‚Grundlagen’ der politischen Haupt- und Staatsaktionen erschöpfend behandelt wurden. Vielmehr ist Diversität ein Grundsachverhalt menschlichen Lebens, der sich in einer immer wieder von Menschen gemachten Erfahrung der Unterscheidung des Einen und des Anderen, des Eigenen und des Fremden ausdrückt. Und diese Erfahrung besteht eben nicht nur zwischen einer vermeintlich indigenen, kulturell homogenen und ethnisch reinen Mehrheitsgesellschaft und jenen „Flüchtlingsströmen“, „Migrantenwellen“ oder „Asylfluten“, die sie scheinbar bedrohen, sondern in allen Unterschiedlichkeiten, die zwischen Alten und Jungen, Ossis und Wessis, Religiösen und Nichtreligiösen, Arbeitsnehmern und Arbeitgebern, Monolingualen und Multilingualen, körperlich Beeinträchtigten und Nicht-Beeinträchtigten, Männern und Frauen, Gebildeten und Ungebildeten etc. entstehen.

Wie es nicht gehen kann und was helfen würde

Diesem Sehnen entspricht im Bereich der Schulbuchgestaltung das Festhalten an den Denk- und Handlungsweisen einer analogen Welt, die mit der Weigerung einhergeht, von den Regeln und Grenzen der Buchformate und Druckseiten zu lassen.

Und so rechnet man zur Verfügung stehende Buchseiten aus und teilt sie – nach aktuell erahnten, öffentlichen Aufmerksamkeiten – den ‚zu berücksichtigenden’ Benachteiligten‑, Migrations‑, Opfer- oder sonstigen ‚Problemgruppen’ zu. Und jeder dieser Gruppen kann man dann ‚leider’ auch nur sehr kurz Erwähnung tun; Hauptsache, die Stichworte sind bedient. Überdies müssen wir uns, trotz aller Dringlichkeit, natürlich auch in Geduld üben, weil die nächste papiergebundene Schulbuchgeneration noch eine Weile auf sich warten lassen kann.

Liebe Mitstreiter: So geht es nicht! Das kann auch jeder leicht erkennen, der die Augen aufmacht.

Die Möglichkeiten der Digitalität könnten hingegen an dieser Stelle einen echten Mehrwert bieten:

  • Wenn das Thema Diversität unbestritten doch so wichtig und dringlich ist, warum nutzen wir zum Beispiel die schnelle Veränderbarkeit digitaler Medien nicht? Digitale Schulbücher lassen sich praktisch ohne Zeitverzug aktualisieren und erweitern. Und sie bieten damit die Chance, zeitnah auf drängende Herausforderungen und Orientierungsanlässe einzugehen, weil sich bestimmte didaktische Inszenierungen und konkrete Beispiele austauschen lassen.
  • Warum beharren wir auf der kognitiven Einseitigkeit und der monomedialen Verengung auf druckbare Texte und einige (wenige) Bilder, wenn die Medien Film und Audio auf digitalem Weg in ein Schulbuch integrierbar und in der Lage sind, emotionale oder ästhetische Zugänge zu Diversitätsphänomenen zu eröffnen? Diversität drückt sich eben nicht immer in deutscher Sprache und archivbasierten Textkonventionen aus.
  • Warum nutzen wir die Variabilität digitaler Darstellungsformen nicht, wenn es darum geht, Autorentexte transparent zu machen, etwa in der Kombination mit Autorenvideos, wie dies im multimedialen Geschichtsbuch (mBook) modellhaft gezeigt wurde?
  • Warum sprechen wir Schüler im Schulbuch nicht direkt an und machen ihnen mit den Mitteln digitaler Technik die roten Fäden der ihnen vorliegenden Schulbuchnarrationen deutlich?
  • Warum nutzen wir die Chancen digitaler Instrumente nicht, wenn es doch notwendig ist, die Vielfalt methodischer Verfahren zur de-konstruierenden Erschließung von Narrationen zu erhöhen?
  • Warum bieten wir nicht eine viel größere Differenzierung von Materialien an, wie dies im digitalen Raum – etwa durch die Nutzung mehrerer Ebenen – möglich wäre? Verschiedene Stufen didaktisch reduzierter und nach bestimmten Kriterien aufgeschlüsselter Quellen und Darstellungen könnten helfen, Wahrnehmungsbarrieren zu senken und sich Themen zuzuwenden, denen man sich bislang nicht zugewandt hat.
  • Diversität macht die Heterogenität menschlichen Lebens deutlich. Diese Heterogenität braucht fachlich und fachdidaktisch angemessene Räume. Sie lässt sich im (potentiell unendlichen) digitalen Raum umsetzen, ohne Schulbücher zu aufgeblähten und unorganisierten Materialsammlungen zu machen.

Einige der oben beschrieben Techniken und Methoden kann man im Probekapitel des mBooks zum Ersten Weltkrieg nachvollziehen.

Fazit

Erich Kästners Rat an die Schüler, den Schulbüchern „gelegentlich“ zu misstrauen, weil sie auf einem reaktionären Traditionalismus beruhen, ist heute so aktuell wie zu Beginn der 1950er Jahre. Die Kluft zwischen einer digital-medialen Gegenwart, in der Schüler wie Lehrer sich bewegen, und der Realität des analogen Schulbuchs, mit dem Schüler und Lehrer umgehen müssen, schadet der Akzeptanz und der Relevanz des Fachunterrichts, denn Inhalt und Darreichungsform dieses analogen Buchs erzeugen Misstrauen und Abwendung, wenn sich mit ihm Paradoxien verbinden, die eine Erreichung der Bildungsziele nicht erleichtern, sondern sie behindern. Das allerdings gilt für alle Schulbücher, nicht nur für die des Fachs Geschichte.

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